01.07.2021 Jeder kennt es in einem Straßencafé zu sitzen und das pulsierende Leben von anderen Menschen zu beobachten. Gerade mit den neuen Corona-Lockerungen wissen dies viele Menschen zu schätzen.
Wenige kennen es, in einem Regenwald zu beobachten, wie zahlreiche unbekannte Tiere aus dem dichten Wald auftauchen oder in einer Savanne von einem Punkt aus unzählige Tiere bei ihren Aktivitäten zu beobachten. In unserer intensiv genutzten Kulturlandschaft ist das Leben oft auf ein Minimum reduziert, um optimalen Ertrag zu erhalten.
Aber hier bei uns im Tübinger Ammertal gibt es ein kleines Feuchtgebiet, den Wiesbrunnen, in dem nun wieder das Leben pulsiert.
Durch jahrelange intensive Biotopflege unserer NABU Gruppe und der IAN (Initiative Artenvielfalt Neckartal), mit Unterstützung durch die KST (Kommunale Servicebetriebe Tübingen), ist es gelungen dort wieder ein Offenland Feuchtbiotop zu generieren, in dem es von Leben nur so wimmelt.
Wenn man sich die Zeit nimmt und aus der Ferne die Fläche durch ein Fernglas beobachtet, um die Tiere nicht zu stören, dann kann man sich vorkommen, wie in einer anderen Welt. Da taucht plötzlich eine Graugansfamilie auf und watschelt mit ihren Jungen durch das Gras. Stockenten führen ihre Kleinen über das Wasser und Blässhühner ruhen am Tümpel. Dies sind häufige Arten und auch an anderen Stellen rund um Tübingen zu sehen. Bei genauerem Hinsehen, taucht aber auch einmal ein Zwergtaucher auf dem Wasser auf und in der Zugzeit können Bekassinen und andere Limikolen beobachtet werden oder man genießt das Laubfroschkonzert in der Dämmerung.
Gerade die dieses Jahr zum ersten mal durch die Gemeinden Tübingen und Rottenburg angeordnete Beruhigung der direkt flankierenden Graswege, hat einen enormen Effekt auf das Vorkommen vieler Tiere am Wiesbrunnen. Durch die fantastische Akzeptanz, aller lokalen Hundeführer, Pferdereiter und Spaziergänger, ist die Fläche fast komplett beruhigt. Besonders die gefährdeten Tierarten danken dies mit ihrer häufigen Anwesenheit.
Diese Maßnahmen haben bewirkt, dass dieses Jahr zum ersten mal, der in Baden-Württemberg vom Aussterben bedrohte, Kiebitz dort brütete. Dies nach 12 Jahren Abwesenheit im Ammertal und dann gleich mit vier Brutpaaren! Ein unglaublicher Erfolg für unsere NABU Gruppe, der nur durch die Zusammenarbeit aller beteiligten Landwirte, Spaziergänger, Verwaltungen und Artenschützer gelingen konnte. Unerlässlich war dabei die Vorarbeit der IAN im Neckartal. Nur durch die dort erbrachte Leistung wieder eine Kiebitzkolonie über die letzten Jahre zu etablieren, war es möglich, dass ein solcher außergewöhnlicher Erfolg für den Kiebitz am Wiesbrunnen eintreten konnte.
„Entscheidend ist am Ende aber wie viele Küken sich zu einem flüggen Jungkiebitz entwickeln,“ erläutern Florian Straub und Rudolf Kratzer von der IAN. „Nur wenn dies im Durchschnitt 0,8 Kiebitze pro Nest schaffen, ist der Kiebitz in der Lage seine Population zu erhalten. Im Moment sind wir auf einem guten Weg einen Wert von unglaublichen 2,0 zu erhalten.“
Auch wenn es für den außenstehenden Betrachter so aussieht, dass der Wiesbrunnen eine schöne, natürliche Landschaft ist, so kann diese Landschaftsform nur durch aufwändige Pflege als Lebensraum für den Kiebitz erhalten werden. Die Fläche musste durch entsprechende Maßnahmen wiedervernässt werden. Die Hochlandrinder, des Landwirts Stefan Münsinger, müssen das Gras abweiden und ein Zaun zum Schutz vor dem sehr häufigen Fuchs als Nesträuber täglich kontrolliert werden. Würde die Fläche nicht durch diesen Einsatz gepflegt, würden Bäume und Sträucher dort Besitz ergreifen und der Kiebitz das Gebiet meiden, da in zu dichtem Gras die Jungen keine Nahrung finden und die Bäume aus Angst vor lauernden Greifvögeln gemieden werden.
Natürlich ist es auch schade, dass im Frühjahr nicht durch die Fläche am Wiesbrunnen geschlendert werden kann, um die Vielzahl an dort vorkommenden Insekten zu bestaunen oder Landschaftsfotos zu schießen. Damit dies gleichzeitig mit der Anwesenheit von Kiebitzen möglich ist, müsste es mehr oder größere Flächen wie den Wiesbrunnen im Ammertal geben. Der NABU Tübingen bemüht sich daher immer die Interessen von Landwirten, Freizeit-suchenden und Artenschutz unter einen Hut zu bekommen und ist immer offen um mit allen Interessierten ins Gespräch zu kommen. Vielleicht ist es möglich, dass der Kiebitz sich am Wiesbrunnen und im Ammertal weiter ausbreiten kann, dies wird jedoch nur gelingen, wenn alle Beteiligten so gut zusammen arbeiten, wie es am Wiesbrunnen bisher geschehen ist.
Text Lars Stoltze